80er Jahre: Sicherheit neu denken
Jan Ole Wiechmann
Am 12. Dezember 1979 vereinbarten die NATO-Staaten in
Brüssel, knapp 600 atomare Mittelstreckenwaffen in Westeuropa zu
stationieren. Dieser Beschluss, der als NATO-Doppelbeschluss bekannt
werden sollte, wurde in erster Linie mit der Aufstellung der sowjetischen
SS-20-Raketen begründet, auf deren Bedrohung nicht zuletzt der
damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt aufmerksam gemacht hatte. Um
einen doppelten Beschluss handelte es sich, weil die Entscheidung über die
Stationierung der NATO-Raketen an Gespräche mit Moskau gekoppelt war.
Die Aufstellung der neuen Waffen sollte so erst Ende 1983 „im Licht
konkreter Verhandlungsergebnisse“ vorgenommen werden. Wie in anderen
europäischen Ländern rief der NATO-Doppelbeschluss auch und besonders in
der Bundesrepublik tiefgreifende Debatten hervor, die in die Entstehung
einer großen friedenspolitischen Protestkultur mündeten.
Diese „neue Friedensbewegung“ wurde zu einer außerparlamentarischen Massenbewegung, die die westdeutsche Gesellschaft in dieser Dimension noch nicht gekannt hatte. Riesige Demonstrationen mit jeweils mehreren hunderttausend Menschen, dazu Unterschriftenaktionen und Appelle, öffentliche Auseinandersetzungen und vielfältige Aktionsformen prägten das Bild der frühen achtziger Jahre in der Bundesrepublik entscheidend mit. Dass DER SPIEGEL seine Titelgeschichte zur neuen Friedensbewegung im Vorfeld des Evangelischen Kirchentages 1981 mit dem Zitat „Selig sind die Friedfertigen“ überschrieb, ist gewiss kein Zufall. Die religiöse Semantik war hier mehr als nur ein Wortspiel, denn die christlichen Friedensinitiativen gehörten ohne Zweifel zu den bedeutsamsten Trägern der heterogenen Gesamtbewegung. Ihre Vorreiterrolle gilt dabei nicht nur im Hinblick auf die Organisation der Aktivitäten, sondern auch für die inhaltliche Prägung und die moralische Autorität. Interkonfessioneller Schulterschluss Bemerkenswert ist dabei der Umstand, dass sich die christliche Friedensbewegung der achtziger Jahre durch ihre Interkonfessionalität auszeichnete. Während es in den vorangegangenen Jahrzehnten einen deutlichen Überhang protestantischer Friedensproteste gegeben hatte, erwachte mit Beginn der breiten öffentlichen Diskussion um den NATO-Doppelbeschluss auch die friedens- und sicherheitspolitische Debatte im katholischen Bereich aus ihrem „Dornröschenschlaf“, in den sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in den frühen fünfziger Jahren gefallen war. Die vielen ökumenischen Aktivitäten – u.a. Tagungen, Demonstrationen, Friedenswochen, ein „Widerstandstag der Christen“ – sollten nun der gemeinsamen Sorge um den Frieden Ausdruck verleihen. Die Interkonfessionalität ist darüber hinaus ein Indiz für die erstmals in dieser Form gegebene gesamtgesellschaftliche Breite des friedenspolitisch motivierten Protests in der Bundesrepublik.
Leitbegriff der gemeinsamen Sicherheit
Auch wenn der NATO-Doppelbeschluss als ein wesentlicher Anlass für die neue Friedensbewegung betrachtet werden kann, so lagen die Ursachen für die Massenmobilisierung tiefer in der bundesrepublikanischen Gesellschaft verankert. Nachdem die westdeutsche Bevölkerung drei Jahrzehnte zwischen Verdrängung und Unbehagen unter dem „Damoklesschwert“ der nuklearen Abschreckung gelebt hatte, wurden nun Überlegungen über die Notwendigkeit eines ganz neuen Sicherheitsdenkens angestellt, das sich nicht mehr auf die Abschreckung mit Atomwaffen stützen sollte. Sehr intensiv wurden solche Ideen auch und gerade in den christlichen Friedensgruppen entwickelt. Dabei haderte man vielfach mit dem Begriff der Sicherheit, der im „Krisenjahrzehnt“ der siebziger Jahre die politische Sprache zu dominieren begann.
Die Christen in der Friedensbewegung erstrebten vielmehr einen Frieden im weiten Sinne des biblischen „Shalom“. Dieser theologischen Zielangabe mussten jedoch konkrete politische Aussagen folgen, um in der gesellschaftlichen Diskussion Einfluss nehmen zu können. So war es die pax christi-Plattform „Abrüstung und Sicherheit“, die im November 1980 feststellte: „So wenig wir als Christen den Wert Sicherheit als ein letztes Ziel unseres Engagements setzen können, so sehr sind wir doch verpflichtet, eine politische Sicherheit jenseits angedrohter gegenseitiger Vernichtung zu suchen.“
Bei dieser Suche schien man schließlich mit dem Schlagwort der „Gemeinsamen Sicherheit“ einen Leitbegriff gefunden zu haben, der in der neuen Friedensbewegung vor allem seit 1982 aufgenommen wurde. Das christliche Spektrum postulierte die Idee einer Gemeinsamen Sicherheit vielfach als Konkretisierung der biblischen Feindesliebe und als politische Notwendigkeit. Der Grundgedanke dieses Konzepts war dabei, dass im nuklearen Zeitalter und in einer Welt zunehmender globaler Abhängigkeiten und Risiken Überleben nur noch zusammen mit dem Gegner möglich sei. Die Gefahr durch Atomwaffen mache ein Sicherheitsdenken obsolet, in dem Sicherheit in militärischen Kategorien von Abgrenzung und Abwehr gedacht werde. Nicht zuletzt hatte die fortschreitende Entwicklung der Waffentechnologie, die mit immer treffsicheren und schnelleren Nuklearraketen die Gewinnbarkeit von Atomkriegen in Aussicht stellte, zwei grundsätzliche Dilemmata des Abschreckungssystems offenbart. Zum einen hielten die christlichen Initiativen die Drohpolitik im Ost-West-Konflikt für gefährlich, weil diese zwangsläufig den Rüstungswettlauf beschleunige und die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Auseinandersetzung erhöhe.
Die Mittel der Sicherheitsproduktion selbst, die Nuklearwaffen, wurden aufgrund ihrer Zerstörungspotenziale als größere Gefahr wahrgenommen als der konkrete Gegner, die Sowjetunion. Zum anderen beschränkten sich die christlichen Gruppen aber nicht nur auf den Ost-West-Konflikt, sondern sie weiteten das Konzept Gemeinsamer Sicherheit unter besonderer Berücksichtigung des Nord-Süd-Gefälles auf die globale Ebene aus. In diesem Sinne sprach pax christi von der „Provinzialität unseres Sicherheitsdenkens“. Die starke Fixierung auf die militärische Rüstung im Ost-West-Konflikt, so führte die ökumenische Initiative Schritte zur Abrüstung 1981 exemplarisch aus, „bindet die kreativen Kräfte, die wir für die Lebensprobleme unserer ganzen Zivilisation brauchen, so wie wir das Geld, das wir jetzt in unsere Rüstung stecken, dringend nötig haben, um in den Teilen der Erde Lebensmöglichkeiten zu schaffen, von deren friedlicher Entwicklung auch unsere Sicherheit abhängt“.
Die hier nur angedeutete Konzeption der Gemeinsamen Sicherheit kann insgesamt als Summe des neues Sicherheitsdenkens in der christlichen Friedensbewegung bezeichnet werden, das mit dem Ziel einer grundsätzlichen Umkehr in der Sicherheitspolitik weit über die Ablehnung des NATO-Doppelbeschlusses hinauswies.
Bewusstheit für die Folgen der Moderne
Wenn man die neue Friedensbewegung vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund zwischen Ölkrise und „zweitem Kalten Krieg“ betrachtet, so gehört sie als Teil der Neuen sozialen Bewegungen zu einem grundsätzlichen gesellschaftlichen Konflikt um die wissenschaftlich-technische Fortschrittszivilisation. Die durch den Menschen selbst geschaffenen Gefahren der Umweltverschmutzung, Gentechnologie, Atomenergie und Atombewaffnung wurden in den siebziger und achtziger Jahren verstärkt als existentielle Bedrohungen wahrgenommen. Direkte Erfolge konnten die Protestbewegungen meist nicht verbuchen; die Stationierung der NATO-Raketen setzte der Bundestag 1983 durch, das Atomkraftwerk Brokdorf ist heute noch in Betrieb und auch der Bau der Startbahn West in Frankfurt wurde nicht verhindert. Allein die Problematisierung dieser „Überlebensthemen“ hat jedoch zweifelsfrei dabei geholfen, das Bewusstsein in der Bevölkerung um die Folgen der Moderne auf eine neue Stufe zu heben. Die unbestreitbare Aktualität dieser Thematik kann uns so heute einmal mehr verdeutlichen, dass Geschichte immer auch Gegenwart ist.